Herr Dr. Dürnberger, wenn wir uns mit dem Thema Tierwohl beschäftigen, kommen wir nicht an dem Begriff der Wertschätzung bzw. Tierethik vorbei. Was verstehen Sie unter Werten und Wertschätzung?
Bei Werten geht es um Fragen wie: Was ist uns wichtig im Leben? Was halten wir für erstrebenswert? Und natürlich auch: Welche Wertschätzung schulden wir Mitmenschen, anderen Wesen und auch Dingen?
Tierwohl ist hierfür ein anschauliches Beispiel: Dürfen wir mit Tieren alles machen, was wir wollen? Mit Sicherheit nicht. Welchen Umgang schulden wir aber Tieren? Welche Werte sollen unseren Umgang mit ihnen leiten? Über diese Fragen der Tierethik wird seit jüngster Vergangenheit mit neuer Vehemenz diskutiert.
Inwiefern hat sich das Wertesystem der Gesellschaft in den letzten Jahren verändert?
Die allermeisten Menschen kennen Hunger nur noch aus Märchen. Insofern können wir ganz anders über unsere Lebensmittelproduktion nachdenken und diskutieren als Generationen vor uns – und genau das ist auch der Fall. Die gesellschaftlichen Erwartungen erschöpfen sich nicht mehr in „leistbare und genug Lebensmittel“, sondern es geht nun auch um Umwelt- Klima- und Tierschutz. Das sind die drei zentralen Wertvorstellungen, deren Bedeutsamkeit – zumindest in den Debatten – enorm zugenommen hat. Natürlich muss man hierbei sogleich ergänzen, dass wir Menschen dazu tendieren, diese Dinge zwar einzufordern – aber nur bedingt dazu bereit sind, dafür auch mehr Geld auszugeben.
Ist die Tierwohl-Diskussion eine Wohlstandsdiskussion? Und wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Ja und nein. Ja, denn es braucht einen gewissen Wohlstand, um uns beispielsweise über Tierwohl Gedanken machen zu können. Würde eine Hungersnot nach der anderen unseren Kontinent bedrohen, hätten wir andere und dringendere Fragen zu diskutieren als jene, wie viel Quadratmeter ein Schwein zur Verfügung hat. Nun leben wir jedoch nicht in einer Mangel- sondern in einer Überflussgesellschaft. Und in einer solchen können wir uns nicht nur Gedanken rund um Klima, Umwelt und Tiere machen – wir müssen es sogar. Daher ist die Tierwohl-Diskussion und Tierethik alles andere als eine „dekadente“ oder „überflüssige“ Debatte. Sie ist vielmehr eine notwendige. Das bedeutet aber auch, dass wir sie nicht einfach auf die Bauern und Bäuerinnen abwälzen können. Das Thema geht die gesamte Gesellschaft an.
Sie sprechen in Ihren Büchern von einer gesellschaftlichen Entfremdung zwischen Gesellschaft und landwirtschaftlicher Branche. Was verstehen Sie darunter?
Immer weniger Menschen haben einen Bezug zur Landwirtschaft, beispielsweise haben immer weniger einen Landwirt, eine Landwirtin in ihrer Familie oder kommen mit landwirtschaftlicher Praxis unmittelbar in Kontakt. Man könnte hierbei auch davon sprechen, dass die Landwirtschaft „unsichtbar“ geworden ist. Im Besondern die Nutztierhaltung findet immer stärker abgeschottet statt. Man denke an einen Schweinestall, der für Außenstehende hermetisch abgeriegelt erscheint. Dafür gibt es gute (hygienische) Gründe, zugleich aber wirkt eine derartige Produktion wie eine „Black-Box“ – und eine solche kann mitunter Angst machen oder Skepsis erregen: Was passiert da hinter den Kulissen?
Inwieweit hat sich diese Entfremdung auf die Diskussionsinhalte in den Medien und öffentlichen Meinungen ausgewirkt?
All dies hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung: Weniger Bezug bedeutet in der Regel nämlich nicht nur weniger Wissen. Das, was wir regelmäßig vor Augen haben, halten wir auch für normal, erscheint uns selbstverständlich; das, was wir selten oder gar nicht sehen, hingegen nicht. Dies führt gegenwärtig zur eigentümlichen Situation, in der die Produkte aus der Landwirtschaft uns stets vor Augen sind, die konkrete Produktion dieser Nahrungsmittel jedoch nicht. Umso wichtiger ist es, dass Landwirtinnen und Landwirte in einen unmittelbaren Kontakt mit Verbraucherinnen und Verbraucher kommen. Wie eine solche bessere Agrarkommunikation gelingen kann? Dazu habe ich in meinem Buch „Ethik für die Landwirtschaft“ in einem eigenen Kapitel 10 Thesen aufgestellt. Unter anderem geht es um die Frage, wie Vertrauen gebildet wird.
Warum sind Verbraucher:innen laut Umfragen bereit, mehr für Tierwohl auszugeben, dies spiegelt sich jedoch nicht im Kaufverhalten wider? Welche Zielkonflikte entstehen an der Fleischtheke?
In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Kontext von „sozial erwünschten Antworten“. Das bedeutet: Wenn wir heute Bürgerinnen und Bürger danach fragen, inwieweit ihnen Klimaschutz oder Tierwohl wichtig sind, dann wissen die allermeisten, was sie antworten sollen, um als „guter, reflektierter Mensch“ zu erscheinen. Und da wir alle danach trachten, dass andere weitgehend gut über uns denken und in uns einen mündigen, verantwortungsbewussten Bürger sehen, fallen die Antworten entsprechend aus. Als Resultat haben Verbraucherantworten und Verbraucherverhalten oftmals wenig miteinander zu tun. Erschwerend kommt hinzu, dass neben dem teuren Produkt, das „mehr Tierwohl“ verspricht, meist ein weit günstigeres Produkt liegt, das geschmacklich aber ebenso überzeugen kann. Wichtig ist, dass wir hierbei nicht mit dem moralischen Finger allzu schnell auf andere zeigen, sondern unser eigenes Tun reflektieren: Handeln wir immer nach den Werten, die wir wichtig finden? Tun wir immer das, was wir behaupten zu tun?
Welchen moralischen Umgang schulden wir einem Tier?
Grundsätzlich lassen sich zwei „Extrempositionen“ denken:
(1) Man kann behaupten, dass Tiere überhaupt keinen moralischen Eigenwert besitzen, dass sie also nur als Eigentum moralisch bedeutsam sind. In dieser Perspektive sind Tiere bloße Gegenstände: Gehört ein Tier mir, kann ich mit ihm quasi machen, was immer ich möchte.
(2) Auf der anderen Seite lässt sich behaupten, dass Tiere – wegen bestimmter Fähigkeiten und Bedürfnisse – einen derart hohen moralischen Stellenwert besitzen, dass jegliche Tierhaltung im Grunde falsch ist. In dieser Perspektive wird Tieren ein personen-ähnlicher Status zugesprochen: Wie man keinen Menschen halten und töten darf, verbietet sich das auch bei Tieren. Wichtig ist hierbei: Wer die eine Position ablehnt, vertritt nicht automatisch die andere. Zwischen (1) und (2) bleibt nämlich reichlich Raum für differenzierende Fragen: Wenn wir in Tieren mehr als bloß Gegenstände erkennen, aber doch weniger als Personen – welche ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse müssen wir moralisch berücksichtigen? Verschiedene Antworten sind denkbar. Eine lautet: „Tiere sind leidensfähige Kreaturen, daher haben wir die Pflicht, ihnen Leid zu ersparen.“ Eine andere kann lauten: „Tiere haben ein natürliches Verhaltensrepertoire. Wir sollten ihnen ermöglichen, dieses auch unter menschlicher Obhut so gut es auszuleben.“
Was ist ein gutes Leben für ein Tier?
Ein berühmtes Beispiel, wie bereits vor vielen Jahrzehnten ein gutes Leben eines Tiers beschrieben worden ist, findet sich in den sogenannten „Fünf Freiheiten“, entwickelt vom Farm Animal Welfare Council. Ein Tier soll demnach
(1) frei sein von Hunger, Durst und Fehlernährung; es soll Zugang zu frischem Wasser und gesundem und gehaltvollem Futter haben;
(2) frei sein von Unbehagen; es soll eine geeignete Unterbringung (z.B. einen Unterstand auf der Weide), adäquate Liegeflächen etc. haben;
(3) frei sein von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten; es soll durch vorbeugende Maßnahmen bzw. schnelle Diagnose und Behandlung versorgt werden;
(4) frei sein von Angst und Stress;
(5) und schließlich soll das Tier die weitgehende Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster haben; z.B. durch ausreichendes Platzangebot, durch Gruppenhaltung, die „soziales Leben“ ermöglicht, etc.
Wichtig hierbei ist: Diese „Freiheiten“ nennen Zieldimensionen. Wo Ziele genannt werden, dort kommt es in aller Regel zu Zielkonflikten. Um hierfür ein Beispiel zu bringen: Ein Wildtier, das im Wald lebt, hat absolute Freiheit, wenn es darum geht, sein Verhalten auszuleben. Ist es jedoch krank, kommt keine Tierärztin. Bei einem Tier im Stall ist es umgekehrt. Und um noch einen weiteren Gedanken zu ergänzen: Tierwohl-Konzepte blicken meist auf das gesamte Leben eines Tiers, sprich, es geht nicht so sehr um eine punktuelle Bestandsaufnahme. Nur weil ein Wesen – denken wir hierbei auch an uns Menschen – mal kurz Schmerzen hat, würden wir nicht gleich behaupten, dass es ein schlechtes Leben führt.
Was verstehen Sie unter einer vertrauenswürdigen Kommunikation?
Überall wo „mehr Kommunikation“ gefordert wird, geht es in Wahrheit um Vertrauen. Denn Kommunikation ist nur sinnvoll, wenn der Rezipient dem Kommunikator Vertrauen entgegenbringt. Hierbei mache ich im Buch unter anderem zwei Gedanken stark:
(1) Wenn es um Werte und Vertrauen geht, braucht es die persönliche Begegnung. Das heißt: Der einzelne Landwirt, die einzelne Landwirtin ist gefordert, selbst stärker kommunikativ zu werden.
(2) Konsumentinnen und Konsumenten haben von der konkreten landwirtschaftlichen Arbeit meist wenig Ahnung. Nicht nur, weil sie wenig Wissen und wenig Bezug aufweisen, sondern auch, weil die diesbezüglichen Fragen komplex sind. Wer wenig Ahnung hat, der muss… vertrauen. Daher diskutiere ich in meinem Buch auch die Frage, wie Vertrauen entsteht. Ein entscheidender Gedanke hierbei ist: Wer will, dass einem vertraut wird, der muss auch über seine Probleme reden. Wo sind Schwierigkeiten? Was läuft nicht gut? Was würde man gerne besser machen? Wenig erhöht die Glaubwürdigkeit mehr als das.
Christian Dürnberger, Doktor der Philosophie, arbeitet als Universitätsassistent am Messerli Forschungsinstitut, Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Medizinischen Universität Wien und Universität Wien. Darüber ist hinaus lehrt er Campus Francisco Josephinum Wieselburg.
Sein Buch „Ethik für die Landwirtschaft“ richtet sich an Bäuerinnen und Bauern und greift in zwölf leicht verständlichen Kapiteln zentrale Fragen der Gegenwart auf: Von Tierwohl über Gentechnik bis hin zu einer besseren Kommunikation mit der Gesellschaft. Es ist über Amazon, im DLV-Shop sowie beim Autor selbst (Kontakt via www.christianduernberger.at) erhältlich.