Stellt doch mal euer Unternehmen vor, was macht ihr genau? Spannende Gründungsgeschichte?
VetVise wurde im Herbst 2020 aus der Tierärztlichen Hochschule Hannover heraus gegründet. Das Gründerteam besteht aus Jakob Wendt, zuständig für Datensicherheit und technologische Entwicklung, Tierarzt Johannes Schmidt-Mosig, der sich um die Schnittstelle Mensch-Tier-Maschine kümmert und Norman Caspari, verantwortlich für die betriebswirtschaftliche Seite.
Gestartet sind wir drei zusammen mit dem Bundesverband praktizierender Tierärzte im Bereich der Telemedizin, um uns dann mit VetVise auf die Verbesserung der Schweine- und Geflügelhaltung zu fokussieren. Unser Ziel ist es, moderne KI-Technologien und althergebrachtes Wissen in der Landwirtschaft zu verbinden, um das Tierwohl, die Nachhaltigkeit und die Effizienz der Betriebe zu verbessern. Wir schaffen das, indem wir der “Dolmetscher” der Tiere anhand ihres Verhalten dem Landwirt Handlungsempfehlungen geben – das Tier “steuert” damit quasi seinen Stall.
Um das Thema nochmal zu konkretisieren, wie verbessert ihr im Hähnchenstall das Tierwohl?
Das lässt sich sehr gut an einem typischen Beispiel aus der Praxis erklären: Wir sehen, dass die Tiere sich abends während der Hellphase anfangen zusammen zu ziehen, kleinere und größere Gruppen bilden und die Aktivität abnimmt. Das ist das typische Verhalten der Masthähnchen, wenn ihnen kalt wird. Unser System sieht die Gruppenbildung und abnehmende Aktivität und wir sagen dann dem Landwirt Bescheid, dass er die Temperatur in dem Stall z.B. um 0,5°C erhöhen kann. Er setzt das dann um und die Tiere verteilen sich wieder gleichmäßig im Stall und werden aktiver.
Wenn der Landwirt online auf seinen Klimacomputer zugreifen kann, vergehen zwischen unserer Meldung und der Anpassung der Temperatur oft nur wenige Minuten. Damit fühlen sich die Tiere schon kurz, nachdem sie uns gezeigt haben, dass es ihnen kalt ist, wieder wohl.
An welchen Stellschrauben muss eurer Meinung nach noch gedreht werden, um das Tierwohl zu verbessern in Deutschland?
Es wirkt so, dass wir aktuell Tierschutz häufig “mit dem Zollstock” betreiben, in dem wir uns vor allem die Haltungsumwelt des Tieres anschauen. Bestimmte Vorgaben für den Platz pro Tier oder die Verfügbarkeit von Spielmaterial werden dann einfach als “Tierwohl” definiert. Wir glauben, das sich guter Tierschutz vor allem an den Bedürfnissen der Tiere orientieren sollte und deshalb nicht mit “one-size-fits-all” Lösungen zu erschlagen ist. Es gibt auf vielen Betrieben gute und praxistaugliche Ideen für mehr Tierschutz, die den Tieren objektiv das Leben einfacher machen, aber nicht in das bisherige Muster passen und somit oft auch nicht umgesetzt werden. Sinnvoller Tierschutz beginnt für uns deshalb am Tier und fragt nach seinen tatsächlichen Bedürfnissen und startet nicht am Reißbrett und fragt nach Quadratzentimetern.
Wir haben in Deutschland eines der höchsten der Welt, welche Verbesserungen sind noch möglich? Muss das Bewusstsein in der Bevölkerung noch sensibilisiert werden?
Der hohe Tierwohlstandard in Deutschland ist sehr zu begrüßen und hat uns zu einem Vorreiter in der Produktion von Lebensmitteln gemacht. Wir müssen jetzt schaffen, dass das Tierwohl wieder eine Frage der Tiere und nicht des Zollstocks wird. Das ist nicht nur gut für die Tiere, sondern eigentlich auch die gesellschaftliche Forderung schlechthin – das Tier wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür muss sich aber das politische System ändern und deutlich flexiblere und praxisnähere Lösungen zulassen.
Was wir uns wünschen, ist wieder ein engerer Austausch zwischen der Bevölkerung und der Landwirtschaft. Durch die schleichende “Entfremdung” in den letzten Jahrzehnten haben viele Menschen gar keine Vorstellung mehr davon, wie Landwirtschaft und Tierhaltung wirklich funktionieren. Es existieren deshalb viele Missverständnisse und falsche Ideen. Hier ist glaube ich noch viel Arbeit auf allen Seiten zu tun, um die Landwirtschaft wieder mehr in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu holen.
Könnt ihr uns einmal erklären, wie genau euer KI-System funktioniert?
Unser System ist grundsätzlich sehr einfach aufgebaut: Unsere Kameras filmen die Tiere im Stall und unsere KI erkennt die einzelnen Tiere live und in Echtzeit – wir nennen das dann das “unspezifische Einzeltier”. Unser System schreibt sich dann in jedem einzelnen Videobild auf, wo die Tiere erkannt wurden. Damit können wir dann die Tierverteilung und die Aktivität der Tiere berechnen. Anschließend gibt es z. B. weitere KIs, die z. B. nach toten Tieren suchen oder Systeme, die beispielsweise Warnungen ausgeben, wenn ein Problem der Stalltechnik erkannt wurde – alles anhand des Verhaltens der Tiere!
Diese Informationen und Analysen werden zusammengefasst und als Handlungsempfehlung an den Landwirt geschickt, damit er sich auf seine Tiere konzentrieren kann.
In der Literatur wird beschrieben, dass Spielverhalten nur dann auftritt, wenn die Grundbedürfnisse der Tiere erfüllt sind. Darüber hinaus werden auch geringelte Schwänze vornehmlich in positiven Situationen, wie z.B. der Futteraufnahme beobachtet. Daraus wurde das Auftreten in der reizvolleren Haltungsumgebung als aussagekräftiger Indikator eines eher positiven emotionalen Zustands interpretiert.
Wohin geht eure Reise mit VetVise noch? Was habt ihr für Pläne für die nahe und ferne Zukunft?
Wir stehen gerade erst am Anfang der Möglichkeiten unserer Technologie. Die letzten zwei Jahre haben wir uns darauf konzentriert, ein praxistaugliches System zu entwickeln, das im Stall einen finanziellen Mehrwert bringt. Jetzt wo die Technik funktioniert, geht es darum, möglichst viele Zusammenhänge von den Tieren zu lernen und zu verstehen.
Langfristig sehen wir die Entlastung des Landwirts vom notwendigen Tagesgeschäft als essentiell an. Zusammen mit den Anbietern von Stallklima-Lösungen wollen wir z.B. die Klimasteuerung der Ställe über das Tierverhalten automatisieren, sodass man sich als Landwirt auf die tatsächlichen Probleme konzentrieren kann und ansonsten weiß, dass der Stall läuft. Mit der Automatisierung dieser Prozesse können wir uns dann effizienter um die Bedürfnisse unserer Tiere kümmern und gleichzeitig die Arbeitsbelastung reduzieren. Die Automatisierung der Klimasteuerung in Ställen ist nicht nur eine Verbesserung für die Landwirte, sondern auch für die Umwelt. Durch die gezielte Anpassung der Bedingungen im Stall können wir Energie sparen und die Emissionen reduzieren. Gerade in Zeiten des Klimawandels ist es wichtig, nachhaltige Lösungen zu finden, die sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich sinnvoll sind.
Wie stark kann sich die Landwirtschaft noch digitalisieren? Die Landwirtschaft gilt bereits als eine der höchst digitalisierten Branchen.
Die Digitalisierung in der Landwirtschaft hat sich vor allem auf die Technik konzentriert und – vereinfacht gesagt – Papier gegen Bildschirme getauscht. Das hat zwar einen großen Fortschritt gebracht, der Arbeitseinsatz ist trotzdem noch hoch, weil die notwendigen Prozesse kaum geändert wurden. Gleichzeitig sind unglaublich viele Insellösungen entstanden, sodass die einzelnen Systeme keine Daten untereinander austauschen können.
Die nächste Etappe in der Digitalisierung wird den Fokus auf vereinfachte Prozesse und auf standardisierte Schnittstellen oder gar “Open Source” setzen, damit der Landwirt auch einen tatsächlichen Mehrwert aus den ganzen Daten bekommen kann. Datenbasierte Entscheidungen werden im Zuge der immer größeren Betriebsstrukturen wichtiger, denn je und dafür muss es möglich sein, die Daten aus verschiedenen Systemen zu kombinieren.
Wir gehen in dieser Hinsicht bereits mit gutem Beispiel voran und haben unser System mit offenen Schnittstellen gebaut, sodass ein Austausch von unseren Daten mit Partnern problemlos möglich ist.
Lösungen zu finden, die sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich sinnvoll sind.